Sonntag, 20. Oktober 2013

Alter, mach die Tür frei!

Schienenersatzverkehr. Zusammen mit Gentrifizierung, wohl einer der schönsten und unerlässlichsten Begriffe für jemanden, der in Berlin wohnt. Schienenersatzverkehr herrscht im Grunde immer. Wenn nicht hier, dann dort.
Berlin ist eine ständige Bausstelle, und sollte doch einmal etwas fertiggestellt werden, dann ist es bereits Zeit für die Renovierung. Die meisten Baustellen scheinen aber einfach niemals fertig zu werden und wiederum scheint es schon fast ein Markenzeichen Berlins neben dem Brandenburger Tor, Hertha und der Berliner Schnauze zu sein. Vermutlich wird demnächst der Bär als Maskottchen abgelöst und durch eine Baustellen Silhouette des Hauptstadt Flughafens BER ersetzt.
Nun damit aber nicht ständig der öffentliche Nahverkehr zusammenbricht, was bei der Berliner S-Bahn oft genug passiert, im Winter wegen der plötzlichen Kälte, im Sommer wegen der überraschenden Hitze oder auch mal zwischendurch aufgrund der alltäglichen Nutzung, wurde der Schienenersatzverkehr eingeführt. Fällt also mal wieder eine U-Bahn wegen Gleisarbeiten aus, wird die Strecke durch Busse ersetzt. Klingt einfach. Könnte es auch sein.....ist es aber nicht.
Ich bin ja großer U8-Fan. Weil es einfach die Freak-Bahn schlechthin ist. In dieser Bahn gibt es alles, was es nicht gibt, hier werden sämtliche Klischees bedient, der Straßenfegen an den Mann gebracht, da tanzt schonmal ein ganzes Abteil zur Musik der U-Bahn-Musikanten, hier wird gepöbelt, geschnorrt, gelacht und geweint. Langweilig wird es hier jedenfalls nie, denn hier ist sie zu Hause, die Elite Berlins.
Wie jeder weiß, besteht eine U-Bahn nicht nur aus einem Waggon. Beim Schienenersatzverkehr wird also die Gesamtheit dieser Berliner Elite auf nur wenige Busse verteilt, wenn man Glück hat. Gerne passiert es auch, dass eine ganze Bahn durch einen Bus ersetzt wird. Und wir Berliner wissen, wie es läuft, daher drängen sich die Menschenmassen an den Ersatzhaltestellen auch dicht an dicht an der Bordsteinkante. Berliner lieben es eng und kuschelig. Wer nicht auf Körperkontakt mit Fremden steht, hat hier nichts verloren. Bei dieser Nähe wird selbst der strikte Vegetarierer zum passiven Döneresser, ob er will oder nicht. Dichter kommst du an Berlin nicht ran.
Und dann kommt er: Der Ersatzbus. Aus einem immer lauter werdenden Gemurmel, kann man leises Stöhnen, Zischen und immer wieder "Auu!"-Ausrufe vernehmen. Ellenbogen werden ausgefahren, Kinderwagen als Rammbock und Kleinkinder als Schutzschild verwendet. Hier gibt es keine Gnade. Immer wieder werden Unschuldige vorm Bordstein geschubst. Das ist besonders tragisch wenn es kurz vorm Ziel passiert. Wie bei einem Rockkonzert, wo man es bis an den ersten Zaun geschafft hat, und dann wegen der Drängeleien von der Security herausgehoben wird und sich wieder von hinten durchkämpfen muss.
Natürlich schaffen es nicht alle in den ersten Bus. Und selbst wenn der nächste schon im Anschlag steht, wollen alle in das erste Gefährt. "Bitte machen sie die Tür frei!" scheint das Mantra des Busfahrers zu sein, welches in Dauerschleife abgespielt wird. Es wird regelmäßig aufgelockert durch "Wir können nicht losfahren, wenn die Tür nicht zugeht!" und "Ich hab eeeeeeewig Zeit!". Die Verbundenheit der Mitreisenden wird durch im Chor ertönendes "Aaaaaaalter, mach die Tür frei!" verdeutlicht. Das ist Zusammenhalt. Busfahrer mutieren bei Schienenersatzverkehr zu großartigen Entertainern. Mein Favorit war, der nette Herr im Fahrerhaus, der schallend ins Mikrofon lachte und die Meute aufforderte: "Schaut euch den Clown an, der will doch echt mit Fahrrad in den ersten Wagen!!"
Ich liebe Schienenersatzverkehr! Rosarote Tage voller engelsgleicher Geduld, intensiver Zärtlichkeiten und liebevoller Kosenamen. Das ist Berlin. Und ich mag Berlin.
Zwar fahre ich lieber Fahrrad, aber manchmal, an dieses viel zu gemütlichen Tagen, die sich so kuschelig anfühlen und an denen die Wolken, wie Zuckerwatte aussehen, an diesen Tagen gönne ich mir eine Fahrt Schienenersatzverkehr und atme Berlin tief ein.

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